Sie ist jahrtausendealt und eine der wichtigsten Kulturtechniken überhaupt: die Handschrift. Durch sie wurde über Urzeiten hinweg Wissen überliefert. Was in der Antike oder im Mittelalter geschah: Wir wissen es, weil es einst jemand mit der Hand aufgeschrieben hat.
Doch damit könnte es nun vorbei sein. Die Handschrift, so legen es mehr und mehr Studien nahe, stirbt aus. Sie ist ein Opfer der Digitalisierung.
Nachrichten, Bücher, Briefe, ja selbst persönliche Notizen und Einkaufszettel: So gut wie alles wird heute digital notiert. Laptop und Smartphone haben Kugelschreiber und Papier abgelöst – in so gut wie allen Lebenslagen. Verliert die Handschrift in Zeiten der Digitalisierung also an Bedeutung? Ja, ist sie sogar gänzlich überflüssig geworden?
Lehrer klagen: Schüler verlernen das Schreiben mit der Hand
Fakt ist: Die Lehrer schlagen Alarm. Bei den jüngsten Schülergenerationen beobachten sie eine dramatische Verschlechterung der Schreibkompetenzen. Neun von zehn Lehrern gaben in einer Befragung des Schreibmotorik-Instituts 2019 an, dass sich die Kompetenzen, die es für die Entwicklung der Handschrift braucht, bei Schülern im Primärbereich in den vergangenen Jahren verschlechtert haben, jeder vierte Lehrer spricht sogar von einer starken Verschlechterung. Und nur 4 Prozent der befragten Lehrer zeigten sich mit der Qualität der Handschrift im Sekundärbereich zufrieden, 42 Prozent hingegen nicht oder gar nicht zufrieden.
Die Gründe für diese Entwicklung scheinen vielfältiger Natur zu sein. Die Digitalisierung und der stetig steigende Medienkonsum werden häufig genannt – beide haben zudem auch Auswirkungen etwa auf eine immer weiter sinkende Konzentrationsfähigkeit und Aufmerksamkeitsspanne bei Jugendlichen, die sich wiederum negativ auf die Entwicklung der Handschrift auswirkt.
Bildungsforscher: Handschriftliches Schreiben macht das Gehirn fit
Dabei sind sich Lehrer, Forscher und Bildungsexperten einig, dass die Handschrift wichtig ist – nicht nur allein fürs Schreiben selbst, sondern für viele andere Fähigkeiten, die junge Menschen über sie erlangen. „Durch das Schreiben mit der Hand sieht man, wie der einzelne Buchstabe entsteht. Dadurch werden mehr neuronale Netze aktiviert als durch das Tippen auf einer Tastatur. Die Formen der Buchstaben prägen sich somit durch die Handschrift besser ein“, sagte Bildungsforscher Michael Becker-Mrotzek 2019 in einem Interview mit dem Deutschen Schulportal.
Die in der Schreibmotorik-Studie befragten Lehrer sehen in der Beherrschung des Schreibens mit der Hand zudem positive Auswirkungen auf die schulischen Leistungen – und zwar nicht allein beim Lesen und Verfassen von Texten, sondern auf die schulischen Leistungen insgesamt.
Darüber hinaus lassen sich Inhalte, die handschriftlich aufgeschrieben werden, leichter merken. Durch den Schreibvorgang werden die Informationen aktiv in unserem Gehirn verarbeitet – mit der Folge, dass wir beim Einkaufen den Einkaufszettel häufig in der Hosentasche stecken lassen können, weil wir uns die meisten Dinge während des Schreibens automatisch eingeprägt haben, und zum Beispiel in Vorlesungen an der Uni das vom Professor vorgetragene Wissen bereits besser abspeichern und bei der Prüfungsvorbereitung sofort parat haben.
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Übel und Segen zugleich: Die Digitalisierung verändert unser Leben
Sind Computer, Handy und digitaler Kalender also schlecht und rauben uns unsere Fähigkeit zu denken? Ja. Und nein.
Ja, weil sie uns tatsächlich einen Teil unserer Denkleistung abnehmen und nicht grundlos als externes Gehirn bezeichnet werden. Telefonnummern merken, sich an Geburtstage erinnern, Gedichte auswendig vortragen: Was die Elterngeneration der heutigen Jugend einst zumindest noch in Teilen und die Großelterngeneration sogar ziemlich gut konnte, übernehmen heute der Kontaktespeicher des Smartphones, die Benachrichtigungen von Facebook und für alles, was faktisches Wissen betrifft, die Suchalgorithmen von Google.
Und nein, weil die Technik natürlich nicht grundsätzlich schlecht ist, sondern – richtig gebraucht – sehr wohl unser Leben erleichtern, bereichern und verbessern kann. Informationen mithilfe von Suchalgorithmen innerhalb weniger Sekunden zu finden, Daten und somit Geschichte nachhaltig und von jedem Ort der Welt aus abrufbar abzuspeichern, dazu die ungeheure Geschwindigkeit, mit der Informationen von A nach B gelangen können: Die Liste der Vorzüge der neuen Technologien ist lang.
Die Geschichte lehrt: Alles erlebt irgendwann eine Renaissance
Und nur, weil die Digitalisierung Einzug in unseren Alltag hält, heißt das ja nicht, dass alles bisher Dagewesene verschwinden muss. Der Buchdruck hat der Handschrift nicht den Garaus bereitet und es gibt keinen Grund zur Annahme, dass das digitale Wort ihr ernsthaft gefährlich werden könnte.
Zumal es – die Geschichte zeigt das immer wieder sehr eindrucksvoll – für alles irgendwann eine Renaissance gibt. Nur ein Beispiel: Als das MP3-Format sich endgültig anschickte, die CD in den Ruhestand zu verabschieden und damit der Musik jegliche Haptik zu nehmen, entdeckten auf einmal mehr und mehr Menschen die Schallplatte neu. Wieso sollte es beim digitalen Schreiben und der Handschrift nicht genauso sein?
Handschrift im Trend: Briefe und Tagebuch werden wieder beliebter
Tatsächlich ist es sogar längst so. Handgeschriebene Briefe werden zum Beispiel wieder beliebter. Warum? Weil WhatsApp- und Messenger-Nachrichten zwar schnell getippt sind, aber irgendwie doch auch ziemlich unpersönlich. Hingegen ist ein „handgeschriebener Brief etwas Ultrapersönliches“, fand schon vor Jahren Susanne Dorendorff vom Europäischen Institut für Handschrift und Philographie in einem Beitrag in der Süddeutschen Zeitung.
Und auch individuell gestaltete Notizbücher und Kalender, edle Füllfederhalter und zum Beispiel Kalligraphie-Kurse erleben einen regelrechten Boom. Die Frauen-Zeitschrift Brigitte gibt auf ihrer Webseite eine Anleitung zum Schreiben eines Liebesbriefs – und wir in unserem Blog ein paar nützliche Tipps und Ideen zum Schreiben eines Tagesbuchs.
Handgeschrieben ODER computergetippt? Handschrift UND computergetippt!
Aber eigentlich neigt die gegenwärtige Debatte sowieso zu stark zu Dramatik. Die Frage ist nämlich gar nicht, ob die Handschrift ODER der Computer das Rennen machen, sondern vielmehr jene, welche jeweiligen Vorzüge das Eine und das Andere haben.
Das Mercator-Institut für Sprachförderung hat die Handschrift-Problematik unlängst einem Faktencheck unterzogen und dabei jede Menge wissenschaftliche Belege zusammengetragen, die alle Handschrift-Verteidiger aufatmen lassen dürften. Weder gerät sie nämlich in den Schulen aufs Abstellgleis, noch steht zu befürchten, dass sie gänzlich an Bedeutung verliert.
Und am Ende hat ja auch das Schreiben auf einer Tastatur statt mit einem Stift seine Vorteile – etwa für Menschen, denen das Schreiben allgemein schwerfällt. Sie können dank Computer und etwa der Autokorrektur des Smartphones bessere Texte schreiben, als das für sie handschriftlich möglich wäre.
Für eine Seligsprechung der einen Technik und eine Verteufelung der anderen gibt es also wahrlich keinen Grund.